DEMOKRATIE Politik, Weltbild und Religion:
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 Demokratie blieb über das gescheiterte Experiment mit der zentralistischen Helvetischen Republik hinaus verbunden mit Bestrebungen zur Vereinheitlichung von Gesetzen und Institutionen. Der 1848 erzielte Kompromiss, ein föderalistischer Bundesstaat, hat sich bis heute bewährt.
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Der Kulturkampf

Unterschiedliche Voraussetzungen in den USA und im "Alten Europa"

USA: Freie Religionsausübung für Freikirchen

In der kollektiven Erinnerung der USA nimmt die Überfahrt der puritanischen "Pilgrim Fathers" [Pilgerväter] an Bord der "Mayflower" (1620) eine herausragende Stellung ein. Die Puritaner und zahlreiche Angehörige verschiedener anderer Freikirchen wanderten aus Europa aus, weil sie wegen ihren Glaubensvorstellungen in ihren Heimatländern verfolgt wurden. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten wurde massgeblich von Leuten mitgestaltet, denen das Recht, ihre Religiosität nach ihren persönlichen Vorstellungen auszuüben, sehr viel bedeutete. Mit der Auswanderung und dem Unabhängigkeitskrieg 1775-1783 hatten sie sich dem Einfluss des Königs und der mit ihm verbandelten Staatskirche endgültig entzogen. Unter den Dutzenden von religiösen Gemeinschaften in den USA hatte keine eine Vormachtstellung und man war sich einig, dass Religion eine Sache der individuellen Überzeugung sei. Keine der vielen Kirchen konnte allein einen zahlenmässig wirklich grossen Teil der Bevölkerung, geschweige denn ein Bevölkerungsmehrheit hinter sich scharen und damit ernsthaft machtpolitischen Einfluss ausüben. Bei aller Vielfalt der religiösen Bekenntnisse bestand damit doch eine breite und grundsätzliche Übereinstimmung darüber, dass Kirchenführern keine direkten politischen Machtansprüche zustehen.

Der politische Einfluss der Kirchen war (und ist bis heute) subtiler [versteckter, mit feinen Mitteln durchgesetzt]: Dort wo zwischen den meisten Kirchen eine Übereinstimmung besteht, etwa in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs oder bei moralischen Leitplanken für das Fernsehen, ist der Einfluss konservativer Kirchen bis heute viel grösser als in Europa. So ist das allmorgendendliche Schulgebet in den amerikanischen Schulen nicht wegzudenken und atheistische Eltern haben mit einer Einsprache dagegen nicht den Hauch einer Chance. Abtreibung ist in vielen US-Bundesstaaten nach wie vor gesetzlich verboten. Im US-Fernsehen darf bis heute nicht geflucht werden (Fluchwörter werden durch einen Piepston ersetzt) und als 2004 in einer TV-Show - sei es durch Versehen oder als Provokation - für einige Sekunden die entblösste Brust einer Sängerin zu sehen war, bezeichnete man den Vorfall als "Nippelgate" und stellte ihn damit gewissermassen auf die gleiche Ebene wie den grossen "Watergate"-Politskandal der 1970er Jahre, der zum Rücktritt von US-Präsident Nixon führte; zudem wurde die TV-Gesellschaft zu einer Busse in 6-stelliger Höhe verurteilt. Gewalt im Fernsehen wird aber - solange am Schluss das Gute über das Böse siegt und damit die Welt nach dem Weltbild der bibelfesten Amerikaner in Ordnung bleibt - in den USA nicht einmal ansatzweise als stossend empfunden. In Europa dagegen würde der "Nippelgate"-Vorfall allenfalls Gelächter und Spott auslösen, dafür wird über die Folgen von Gewaltdarstellungen am Fernsehen zumindestens ernsthaft diskutiert.


Europa: Staatskirchen stützten die Monarchie

Ganz anders die Erfahrungen zum Verhältnis von Politik und Religion in Europa:

  • Im Mittelalter gab es eine grosse christliche Kirche und wenige religiöse Splittergruppen, die man als Ketzer bezeichnete und blutig verfolgte. Zwar stritten Papst und Kaiser um politischen Einfluss und Macht, aber weder stellte der Papst das Kaisertum grundsätzlich in Frage, noch verlangte der Kaiser je so etwas wie Religionsfreiheit oder gar die Abschaffung der Religion.
  • Die Reformation führte zwar zur Entstehung von weiteren Kirchen (Lutheraner in Deutschland und Skandinavien, Reformierte in der Schweiz, Süddeutschland, den Niederlanden und Schottland, Anglikaner in England), doch am Prinzip der Staatskirche (ein Land, ein König bzw. Fürst, ein Glaube) änderte sich kaum etwas. In Frankreich wurden die reformierten Hugenotten blutig verfolgt und zur Auswanderung in die Schweiz und nach Deutschland gezwungen, in ganz Europa wurden religiöse Minderheiten wie etwa die Wiedertäufer auch von den protestantischen Kirchen verfolgt und damit in die Auswanderung nach Amerika getrieben. In der Schweiz wurden ganze Gebiete zwangsreformiert (z.B. das Berner Oberland), weil die herrschenden Städte das so wollten, oder der Reformation zuneigende Pfarrer kurzerhand entfernt (in der Zentralschweiz). Einzig in den von allen alten eidgenössischen Orten gemeinsam verwalteten "Gemeinen Herrschaften" liess man den Einwohnern - mangels Einigkeit der Herrschenden wenigstens die Glaubensfreiheit (dafür um so weniger andere Freiheiten).
  • Die frühe Neuzeit brachte nach dem dreissigjährigen Krieg (1618-1648) setzte eine Zentralisierung der Macht ein. Beim Erstarken des absolutistischen Königtums spielten die jeweiligen Staatskirchen eine nicht unbedeutende Rolle durch die religiöse Legitimierung [einem Zustand Rechtmässigkeit zusprechen]. Der Einfluss von Kirchenfürsten wie etwa des katholischen französischen Kardinals Richelieu war beträchtlich. Die Staatskirchen machten sich damit zu Komplizen des politischen Systems.

Es erstaunt deshalb nicht, dass sich die Kritik der Philosophen der Aufklärung nicht allein gegen die absolutistischen Könige, sondern ebenso sehr gegen die mit ihnen verbündeten Staatskirchen und zumindest teilweise sogar gegen das Christentum richtete. Damit musste es zwangsläufig beim Versuch, die aufklärerischen Staatstheorien der modernen Demokratie in die Praxis umzusetzen, zu Konflikten der liberalen [freiheitlich gesinnten] Demokraten nicht nur mit den herrschenden Königen, sondern auch mit den Kirchenführern kommen.

Da die Verbindungen zwischen Staat und Kirche in den einzelnen europäischen Staaten bei aller grundsätzlichen Gemeinsamkeit im Vergleich mit den USA doch unterschiedlich ausgeprägt waren und sich der revolutionäre Prozess von der Französischen Revolution 1789 bis ins 20. Jahrhundert hinein erstreckte und mit der Bildung von Nationalstaaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überlagerte, nahm der Kulturkampf zwischen Politik und Kirche in den einzelnen europäischen Ländern recht unterschiedliche Formen an. Letztlich bleibt das Verhältnis zwischen Politik und Religion in ganz Europa bis heute konfliktgeladen, egal ob man es eher als frostige Distanz (Frankreich) oder als engagierte Auseinandersetzung (Schweiz) wahrnimmt.

  • Die Philosophen der Aufklärung kämpften einerseits für die Freiheit der Wissenschaft (gegen die Bevormundung durch die Kirche, besonders augenfällig im Fall Galileo Galilei), andererseits gegen die Verbandelung der Staatskirchen mit den herrschenden absolutistischen Königen kritisiert. Gefordert wurde auch Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten (Juden, Muslimen, Freikirchen).
  • In der Französischen Revolution wurde die Kirche enteignet, die Pfarrer sollten Staatsangestellte werden und sich der Revolutionsregierung unterstellen. Priester und Ordensleute, die sich gegen die Revolution wandten, wurden blutig verfolgt. Langfristig kam es in Frankreich zu einer vollständigen Trennung von Kirche und Staat.
  • Dem deutschen Reichskanzler Bismarck ging es in seinem Kulturkampf weder um die Freiheit der Wissenschaft noch um Toleranz, sondern schlicht um Machtinteressen des deutschen Kaisers gegen den Papst; er fand mit dieser Haltung zu wenige Verbündete und musste klein beigeben.
  • Obwohl auch in der Schweiz Kirchengüter (Klöster) verstaatlicht wurden und um politische Macht gerungen wurde, floss beim Kulturkampf in der Schweiz sicher weniger Blut und dafür vielleicht etwas mehr Tinte als in Frankreich. Damit traten die grundlegenden weltanschaulichen Aspekte des Kulturkampfes klarer hervor:
    Liberalismus [Freiheit als oberstes Prinzip] gegen umfassende konservative Weltordnung unter kirchlicher Führung.
    Die Fronten verliefen nicht etwa geografisch, wie viele aufgrund oberflächlicher Betrachtung des Sonderbundskrieges von 1847 meinen, sondern quer durch die Bevölkerung aller Regionen. Deshalb entstanden die einzigartig-eigenartigen politischen Instrumente der Direkten Demokratie in der Schweiz auch als Kontrollmechanismen gegenüber den abwechselnd extrem liberalen und extrem konservativen Regierungen in den Kantonen [Kanton entspricht Bundesland].

Langfristig führten diese Auseinandersetzungen in Westeuropa zu massiven Verlust an politischer Macht und Einfluss für die Kirchen. Allen regionalen Unterschieden zum Trotz ist offensichtlich, dass dies ein westeuropäischer Trend ist, der mittlerweile auch stark von einer ehemals einheitlichen katholischen Kultur geprägte Länder wie Italien, Spanien und Irland erfasst hat.


Skepsis als Prinzip:

Die modernen Wissenschaften

Am Anfang der modernen Wissenschaften stand die Skepsis - der prinzipielle Zweifel an vordergründig "offensichtlichen" oder überlieferten Wahrheiten. Alles wurde hinterfragt, überprüft, nachgemessen - und vieles hielt der Nachprüfung nicht stand:
Während z.B. die Alltagswahrnehmung sagt, dass man ständig Energie aufwenden muss, um sich zu bewegen, basiert die ganze Physik seit Galileo Galilei (1564 - 1642) und Isaac Newton (1643 - 1727) auf der Erkenntnis, dass ein bewegter Körper in gerader, gleichmässiger Bewegung verbleibt, sofern nicht Kräfte auf ihn wirken. Dummerweise lässt sich der "Normalfall" im Alltag nicht beobachten (da pfuschen immer Kräfte hinein, z.B. die Erdanziehung als Beschleunigung und Reibungskräfte bremsend), selbst die Planeten bewegen sich wegen der Schwerkraft auf elliptischen Bahnen statt geradeaus, nur eine Rakete (nicht sehr alltäglich ...) fliegt ewig geradeaus, wenn sie endlich weit genug von der Erde weg ist und keinem anderen Himmelskörper nahe genug kommt, um von ihm angezogen zu werden.

Weshalb sollte aber einer, der mit seinen Naturbeobachtungen alles hinterfragt, was höchst logisch denkende, aber unscharf beobachtende Philosophen jahrhundertelang voneinander übernommen haben, nicht auch hinterfragen, was die Kirche predigt? Dies umso mehr, als die mittelalterliche Gewissheit einer angeblich "allein selig machenden" Wahrheit durch die protestantischen Theologen ohnehin in den Grundfesten erschüttert worden war.

Der Italiener Galileo Galilei und der Engländer Sir Isaac Newton sind heute vor allem noch als Mathematiker, Astronomen und als Begründer der Physik als exakte Naturwissenschaft bekannt. Die Erkenntnisse des Priesters (!) und Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473 - 1543) über die Stellung der Erde im Weltall und die vertieften Beobachtungen Galileis, besonders aber die philosophischen Schlussfolgerungen, die er daraus zog, standen zu ihrer Zeit in offenem, scharfem Widerspruch zur Lehre der Kirche. 1632 wurde Galilei von einem kirchlichen Gericht verurteilt und musste seine Lehren widerrufen, um der Todesstrafe zu entgehen. Sowohl Galileis wie Newtons philosophische Gedanken sind heute weitgehend in Vergessenheit geraten, sie beeinflussten zu ihrer Zeit aber andere Denker und wirken so nach.

Die Kritik und die Forderungen der Aufklärung richteten sich beileibe nicht nur an die katholische Kirche, sondern ebenso sehr an die protestantischen Kirchen und wird von diesen mindestens so energisch zurückgewiesen wie von der katholischen Kirchenleitung. Allerdings sind die Kirchen ebenso gespalten wie die Gesellschaft insgesamt. Die protestantischen Kirchen sind aber weniger straff organisiert sind und haben keine einheitliche Führung, deshalb haben liberale Protestanten bessere Chancen, ihre Positionen zu vertreten. Liberale Katholiken dagegen müssen damit rechnen, aus der Kirche ausgeschlossen zu werden (bei Theologen heisst das: Berufsverbot!) und werden so mundtot gemacht. So wurde und wird der katholischen Widerstand gegen die modernen Ideen deutlicher wahrgenommen als der protestantische.



Der Kulturkampf in Frankreich

In der Französischen Revolution (ab 1789) - wurde die Kirche gleich mehrfach angegriffen:

  • Führende Kirchenleute wurden als Komplizen des absolutistischen Königs in der blutigen Abrechnung mit dem Ancien Régime hingerichtet.
  • Die Klöster wurden aufgehoben
  • Der grosse Landbesitz der Kirche wurde enteignet und zu Staatseigentum erklärt - übrigens auf Vorschlag des Bischofs Talleyrand.
  • Radikale Revolutionäre versuchten auch auf dem Gebiet der Religion selbst grundlegende Änderungen einzuführen, errichteten Tempel und veranstalteten religiöse Feiern zu Ehren eines "höchsten Wesens", das mit dem christlichen Gottesbild wenig mehr gemeinsam hatte.

Zwar verschwand der Kult des "höchsten Wesens" bald wieder, und Napoleon Bonaparte, als General im Dienste der Revolutionsarmee gross geworden, setzte sich in Gegenwart des Papstes 1804 die Kaiserkrone auf. Damit wurde eine vorläufige Normalisierung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche signalisiert.

In der weiteren Entwicklung Frankreichs verfestigte sich aber der Graben zwischen Staat und Kirche, es kam zu einer vollständigen Trennung von Staat und Kirche.



Der Zeitgeist des 19. Jahrhunderts

Der Liberalismus

Der politische Liberalismus stellte mit seinen Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit die mittelalterlichen Grundsätze einer streng hierarschischen Gesellschaft, in der sich die Adligen und die Kirche die Macht teilten, radikal in Frage.

Der Positivismus

Der Positivismus behauptete, dass die Wahrheit nur durch kritische wissenschaftliche Forschung gefunden und bewiesen werden könne - und die Erfolge der Naturwissenschaft und ihrer technischen Anwendungen im 19. Jahrhundert, die gegen den Widerstand der Kirche erreicht worden waren, machten dies in einem gewissen Sinne für breiteste Bevölkerungskreise augenfällig Weil die Kirche schon zu lange stur an ihrem Anspruch festgehalten hatte, über die "allein selig machende Wahrheit" zu verfügen, die man demütig zu glauben statt selbstbewusst zu erforschen und zu begreifen, hielten es die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts für sinnlos, sich mit Fragen auseinander zu setzen, die nicht objektiv ("positiv"), gewissermassen mit naturwissenschaftlichen Methoden "messbar" geklärt werden können. Wenn damit auch das "Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde", so war doch die Autorität der Kirche im höchsten Masse bedroht.

Der Materialismus

Der Materialismus leugnete die seit der antiken griechischen Philosophie vorherrschende Meinung, der menschliche Geist (die Seele) sei vom Körper unabhängig und lebe nach dem Tod des Körpers weiter - entweder im Himmel oder in der Hölle, allenfalls vorab zur Läuterung im Fegefeuer. Die Kirche hatte während Jahrhunderten die Angst der Menschen vor Fegefeuer und Hölle kräftig geschürt und für ihre Zwecke missbraucht - sei es zum Eintreiben von Spenden (Ablasshandel) oder zur Durchsetzung von Moralvorschriften. Mit der Leugnung der unabhängigen Seele wurde auch der Höllenangst und damit der Einschüchterung der Bevölkerung der Boden entzogen.



Die Reaktion der Kirche

Unter Papst Pius IX. (1846 - 1878) kämpfte die katholische Kirche mit allen Mitteln gegen den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, der ihr überkommenes Selbstverständnis in den Grundfesten erschütterte.

Mit dem Dogma [verbindlicher kirchlicher Lehrsatz] von der Unbefleckten Empfängnis Mariae betonte Papst Pius IX. 1854 noch einmal trotzig den Vorrang des Irrationalen (der "positiven" Wissenschaft nicht zugänglichen) vor den materiell fassbaren Erkenntnissen.

Das Unfehlbarkeitsdogma

Das Erste Vatikanische Konzil [Bischofsversammlung] beschloss 1871 wider besseres Wissen das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes [will sagen: der Papst könne sich nicht irren, wenn er eine "Glaubenswahrheit" als Amtsperson verkünde], obwohl bei genauem Studium der Sammlung kirchlicher Dogmen (siehe Denzinger: Enchiridion Symbolorum) Beispiele zu finden sind, wo ein Papst Entscheide eines Vorgängers, die in der selben Sammlung enthalten sind, als Irrlehre bezeichnet.

In der Schweiz, den Niederlanden und Deutschland traten Hunderttausende von Gläubigen aus Protest gegen das Unfehlbarkeitsdogma aus der katholischen Kirche aus. Ein Teil von ihnen bildete die Altkatholische (oder Christkatholische) Kirche.



Der Kulturkampf in Deutschland

Der deutsch - französische Krieg (1870 - 1871) hatte die deutsche Einheit gestärkt. Nun aber befürchtete der preussische Ministerpräsident und Reichskanzler Otto v. Bismarck wegen des Unfehlbarkeitsdogmas neue Uneinigkeit zwischen den katholischen und den protestantischen Teilen des Reiches und eine Allianz Bündnis] der katholischen Staaten gegen das Deutsche Reich. Deshalb führte Bismarck einen erbitterten, letztlich aber erfolglosen Kampf gegen den Ultramontanismus [vom Papst aus Rom = jenseits der Berge straff geführte antiliberale Bewegung des politischen Katholizismus].

Deshalb versuchten Bismarck und sein Kultusminister Falk, die Geistlichen als Beamte dem Staat zu unterstellen, sie so zu kontrollieren und ihre Verbindungen mit der Kurie [katholische Kirchenführung] zu unterbinden. 1871 wurde der so genannte "Kanzelparagraph" gegen politische Predigten erlassen, 1872 das Schulaufsichtsgesetz zur staatlichen Kontrolle der kirchlich geführten Schulen und ein Verbot des Jesuitenordens, 1873/74 die "Maigesetze" (Staatliche Vorschriften für die Ausbildung von Geistlichen und über die kirchliche Disziplinargewalt), schliesslich sollte 1874/75 die Einführung der Zivilehe (Eheschliessung vor dem staatlichen Zivilstandsbeamten statt Trauung durch den Priester) der Kirche die Kontrolle über Familienverhältnisse entziehen. "Sperrgesetze" (Gehaltssperre) und weitere Massnahmen sollten die Geistlichen gefügig machen.

Die Mehrheit der katholischen Geistlichen leistete aktiv oder passiv Widerstand, die politsch aktiven Katholiken (Zentrumspartei) und grosse Teile des Kirchenvolkes lehnten die staatliche Bevormundung der Kirche entschieden ab. Bismarck versuchte den Widerstand zu brechen, indem er viele katholische Geistliche, selbst Bischöfe allein wegen ihrer politischen Haltung ins Gefängnis steckte. Zwar wurde Bismarck von der liberalen Bewegung weltanschaulich unterstützt, aber die Katholiken rückten unter dem staatlichen Druck nur enger zusammen, Die staatlich geförderte Altkatholische Kirche, die das Unfehlbarkeitsdogma ablehnte, fand wohl nicht zuletzt wegen der polizeistaatlichen Methoden Bismarcks in Deutschland kaum Anhänger. Zwischen 1878 und 1886 musste Bismarck die meisten Massnahmen schrittweise zurücknehmen, Kultusminister Falk trat 1879 ab.



Der Kulturkampf in der Schweiz

In der Schweiz herrschte bis zur Helvetischen Revolution von 1798 grosse Ungleichheit und eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung hatte ebenso wenig Rechte wie die Untertanen der absolutistischen Könige in den Nachbarländern, obwohl obwohl jährliche Landsgemeinden [Volksversammlungen] in wenigen Talschaften formal den Anschein demokratischer Verhältnisse erweckten. Die gewaltsame Revolution scheiterte am revolutionären Chaos, unrealistischen Erwartungen (Abschaffung aller Steuern) mit der daraus unvermeidlich folgenden Enttäuschung der Bauern, sowie an der Verbindung der einheimischen Revolutionäre mit Frankreich, wodurch die Schweiz in die Wirren der napoleonischen Kriege hinein gezogen wurde.

Nach der Niederlage Napoleons (1815) folgte eine Phase der teilweisen Restauration [Wiederherstellung] vorrevolutionärer Herrschaftsverhältnisse. Die europaweite Aufbruchstimmung von 1830 brachte in Frankreich und Belgien Veränderungen in Richtung moderater konstitutioneller Monarchien mit Parlamenten. Nun erhielten die liberalen Ideen auch in der Schweiz wieder Aufwind. In harten Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen gaben sich viele Kantone in den 1830er Jahren liberale, demokratische Verfassungen. Vorschläge für eine moderne gesamtschweizerische Bundesverfassung konnten sich dagegen nicht durchsetzen. Heftige, zum Teil gewaltsame Auseinandersetzungen folgten. Sie gipfelten in einem kurzen Bürgerkrieg (Sonderbundskrieg, 1847). Erst dann war der Weg frei für einen Bundesstaat nach US-amerikanischem Vorbild. Die Substanz der Bundesverfassung von 1848 blieb bis heute erhalten.
 

Obwohl auch in der Schweiz Kirchengüter (Klöster) verstaatlicht wurden und um politische Macht gerungen wurde, standen beim Kulturkampf in der Schweiz doch die grundlegenden weltanschaulichen Aspekte im Vordergrund: Liberalismus [Freiheit als oberstes Prinzip] gegen umfassende konservative Weltordnung unter kirchlicher Führung. Dabei ging es allerdings nicht eben zivilisiert und demokratisch zu. Erst nach und nach wurden die demokratischen Spielregeln klarer definiert, allgemein anerkannt und in den politischen Auseinandersetzungen angewendet.

Der Kulturkampf wurde in der Schweiz mitnichten nur zwischen liberalen und konservativen Kantonen geführt, denn die Fronten verliefen nicht etwa geografisch, wie man aufgrund oberflächlicher Betrachtung des Sonderbundskrieges von 1847 meinen könnte, sondern quer durch die Bevölkerung aller Regionen und quer durch die Konfessionen. Deshalb fand auch die Mehrheit der Auseinandersetzungen auf der regionalen Ebene der einzelnen Kantone statt. Liberale und Konservative Politiker standen einander unversöhnlich und kompromisslos gegenüber. Hatte die eine Partei im Kantonsparlament eine Mehrheit errungen und konnte die Regierung stellen, so setzte sie ihre extremen Vorstellungen sogleich um, ohne noch - wie es heute ausserhalb der Schweiz üblich ist, auf die nächsten Wahlen zu schielen. Vom Wahlvolk kam dann die Quittung bei den nächsten Wahlen, in gravierenden Fällen auch schon früher. Statt sich freiwillig zu mässigen, begann man in der Schweiz das Volk als Schiedsrichter auch in einzelnen Sachfragen anzurufen. Daraus entstanden die einzigartig-eigenartigen politischen Instrumente der Direkten Demokratie in der Schweiz (Referendum und Volksinitiative), die abwechselnd von Liberalen und Konservativen angewendet wurden, um den politischen Gegner zwischen den Wahlen in Schach zu halten.

Auch die Konfession spielte nicht die Hauptrolle, denn nicht selten kämpften liberale Katholiken wie der Aargauer Seminardirektor Augustin Keller kompromissloser gegen die katholische Kirche als ihre reformierten Parteifreunde. Umgekehrt gab es konservative Aktionen aus streng reformierten Kreisen, wie etwa die Auseinandersetzung um den liberalen reformierten Theologieprofessor David Friedrich Strauss, die zur Abwahl einer liberalen Zürcher Kantonsregierung führte.
 

Das Unfehlbarkeitsdogma des 1. Vatikanischen Konzils rief auch in der Schweiz Gegenmassnahmen des von den Liberalen regierten Staates hervor: Bei der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 wurden drei Konfessionelle Ausnahmeartikel eingeführt, die den Einfluss der katholischen Kirche zurückbinden sollten: Klosterartikel (Verbot der Wiedereröffnung oder Neugründung von Klöstern), Jesuitenverbot und Bistumsartikel (Verbot, neue Bistümer ohne Bewilligung der staatlichen Behörden zu gründen).



Bei der Beurteilung der Konfessionellen Ausnahmeartikel ist zu beachten, dass die Schweizerischen Bundesverfassungen von 1848 und 1874 ohne eine starke zustimmende Minderheit in den so genannt "konservativen" Kantonen keine Chance auf eine Stimmenmehrheit gehabt hätte und umgekehrt in den übrigen Kantonen durchaus eine ablehnende Minderheit vorhanden war. Insofern ist es höchst fragwürdig, von einer Spaltung der Schweiz in eine "reformierte Mehrheit" und eine unterdrückte "katholische Zentralschweiz" zu sprechen. Dass dies dennoch immer wieder gemacht wird, ist entweder der Bequemlichkeit bzw. Oberflächlichkeit der Geschichtsschreiber oder aber bewusster Bemühung eines "Märtyrereffektes" zuzuschreiben, mit dem alle Katholiken zur Solidarisierung mit den konservativen Anliegen gebracht werden sollten. Weil die Gleichung "katholisch = konservativ" noch und noch wiederholt wurde, prägte sie sich auf beiden Seiten in den Köpfen ein - mit dem Effekt, dass bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auch durchaus fortschrittlich gesinnte Katholiken in mehrheitlich protestantischen Gebieten das Etikett "rückständig und unzuverlässig" (im Sinne von: dem Bundesstaat und seinen demokratischen Spielregeln nicht treu) angehängt wurde und dass sie oft bei der Vergabe von Führungspositionen diskriminiert [benachteiligt] wurden.


Literatur und Links zur Demokratie und ihrer Geschichte:

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